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Brille

moderne Rekonstruktion einer mittelalterlichen Nietbrille    

Die moderne Sehhilfe ist die Fortentwicklung aus zunächst dem Lesestein (Beryll - wovon die deutsche Brille ihren Namen ableitet - bzw. Bergkristall), später der (Stiel-)Lupe, die auch Einglas genannt wird, und letztlich die durch Verbindung zweier Stiellupen geschaffene Nietbrille.

Zum Stichwort Brille vermeldet das Lexikon des Mittelalters, dass diese gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Norditalien erfunden wurde und sich rasch so weit durchsetzte, dass sie bereits im Jahre 1300 Gegenstand von Regelungen des Hohen Rates von Venedig wurde.
Zur Verbreitung nach und in Deutschland wird keine direkte Aussage gemacht. Wie im Weiteren noch begründet werden wird, ist aber anzunehmen, dass die Nietbrille auch hier bereits um die Wende zum 14. Jahrhundert vereinzelt anzutreffen war.

    Brille ohne Bügel und Ohrenbänder

Bereits 1953 wurde im Nonnenkloster Wienhausen (Niedersachsen) im Rahmen gezielter Nachforschungen die hölzerne Stufe unter der hinteren Sitzreihe des Chorraumes geöffnet. Ziel war die Suche nach Gegenständen, die im Laufe von über sechs Jahrhunderten verlorenen wurden und dort zwischen die Bodendielen gefallenen waren. Unter anderem wurden dabei die wohl ältesten bislang in Deutschland gefundenen Sehhilfen der Gattung Nietbrille gefunden.

Es sind drei unterschiedliche Typen zu unterscheiden:

 
Typ I  

Typ I - mit den geraden Stielen (s. Abb. links) geht diese Form unmittelbar auf das Einglas zurück.

  Typ II  bzw. III  

Typ II - die Stiele sind leicht gebogen, der Tragekomfort damit erhöht.

Typ III - behält die Form des Typs II bei. Allerdings wird das Glas zwischen zwei entsprechend dünnere, miteinander verleimte Hölzer gefasst.

Bei Appuhn sind (rekonstruierte, vollständige) Brillen der unterschiedlichen Typen abgebildet. Allen gemeinsam sind die zwei gleichen hölzernen Fassungshälften, die durch einen Metallniet zusammengehaltenen werden. Diesem Niet verdankt dieser Brillentyp den Namen. Ein Anhaltspunkt für Ohrenschlaufen oder Bügel, wie wir sie heute kennen, findet sich an keiner der Brillen. Die Gläser weisen Stärken von + 2,25 bis + 3,75 Dioptrien auf, sind also nur für (alters-) weitsichtige Menschen geeignet.

Der vermutlich älteste Typ I ist aus Buchsbaumholz gefertigt. Aus etwa zwei Millimeter dickem, sehr feinfaserigem Material wurden kreisrunde Löcher ausgeschnitten und mit einer innenliegenden Nut versehen. Die Brillenteile besitzen einem geraden Stiel, dessen Länge geringer als der Durchmesser der Fassungskreise ist. Die Enden der Stiele werden durch einen Metallniet verbunden. Gegenüber dem Stiel befindet sich eine dreieckige, geschlitzte Verdickung, durch die die Gläser mittels Fadenspannung, später durch einen Draht in der Nut der Fassung gehalten werden.

Eine fortentwickelte Form besteht aus Lindenholz. Bei diesem Typ II sind der Stiel bzw. die Stiele gekrümmt, wodurch ein bogenförmiger Steg gebildet wird. Der Schwerpunkt dieser Brille liegt tiefer, wodurch sie weniger leicht beim Vorbeugen des Kopfes von der Nase herunterfällt, auf die sie geklemmt wird. Auch hier wird das Glas durch Faden- bzw. Drahtspannung in der Fassung gehalten.

Die letzte Form (Typ III) besteht aus jeweils zwei dünnen Brettchen in einer Typ II entsprechenden Form, die nach innen abgeschrägt sind und so aufeinandergeleimt eine stabile Nut für die Gläser ergeben.

Nietbrille, 1352  

Auf einem Gemälde von Thomaso de Modena aus dem Jahre 1352 wird eine Nietbrille des Typs I dargestellt, wobei bis zum Fund der Wienhausener Brillen Unklarheit bezüglich des Materials bestand.
Frühere eindeutige Darstellungen von Brillen auf Malereien oder an Plastiken sind in Deutschland bislang nicht bekannt. Der Schluss von der Nicht-Darstellung auf ihre tatsächliche Nicht-Existenz scheint im ersten Augenblick von verlockender Logik. Er ist aber wissenschaftlich ebenso wenig tragfähig wie die Annahme, Darstellungen würden stets die Realität wiederspiegeln.

Der terminus post quem für den Verlustzeitpunkt der Wienhausener Brillen ergibt sich durch das Alter des Nonnenchores um 1330. Dabei bleibt aber jeweils unklar, wie alt die Gegenstände zum Zeitpunkt des Verlustes waren.

Eine Hilfe für die genauere Datierung der Brillen ist ein gotisches Kästchen aus dem Lüneburger Rathaus, das ebenfalls ‚um 1330' datiert wird. Bei diesem wurden optische Gläser für Hinterglasmalereien benutzt. Größe, Stärke und Unregelmäßigkeiten dieser Gläser entsprechen den in Wienhausen gefundenen Brillen vom Typ II.
Es kann ungeprüft bleiben, ob ältere, nicht mehr gebrauchte Brillengläser für die Hinterglasmalerei benutzt wurden. Allein die Verwendung von Gläsern zum Typ II im Lüneburger Kästchen bedeutet somit einen Gebrauchszeitraum für die älteren Brillen vom Typ I, der eindeutig vor 1330 zu datieren ist.

Ein weiterer Datierungsanhalt ergibt sich aus folgender Überlegung: bevor in der relativen Abgeschiedenheit des Klosters Wienhausen mehrere Brillen verloren gehen konnten, dürften sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Wirtschaftszentren bereits verfügbar gewesen sein. In Köln, mit seinen Wirtschaftsverbindungen auch nach Italien und besonders nach Venedig, wird man relativ früh über Brillen verfügt haben können.

Wir können also mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Brillen bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts auch in Deutschland in Gebrauch kamen.
Allein der Wert des Glases wird sie allerdings zunächst dem Kreis der Wohlhabenden vorbehalten haben. Dafür spricht auch, dass die Wienhausener Brillen ebenso wie die süddeutschen Funde in Klöstern bzw. Stiften gefunden wurden. Hier bestand neben der Notwendigkeit des Lesens der finanzielle Hintergrund zur Verwendung von Brillen.

Quellen und Literatur:


Horst Appuhn:
Ein denkwürdiger Fund
in: Zeiss Werkzeitschrift, Heft 27
Oberkochem: Zeiss, 1958

ders.:
Wie alt sind die Nietbrillen von Wienhausen?
in: Zeiss Werkzeitschrift, Heft 30
Oberkochem: Zeiss, 1958

ders.:
Der Fund vom Nonnenchor
Kloster Wienhausen, 1973.

Carl Graf von Klinckowstroem:
Knaurs Geschichte der Technik.
Lizenzausgabe für den Deutschen Bücherbund
mit Genehmigung der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.
München / Zürich o. J. - S. 79-80:

Frank Rossi:
Brillen: Vom Leseglas zum modischen Accessoire.
München: Callwey, 1989.

Ausstellungskatalog: Die Kuenringer. Das Werden des Landes Niederösterreich.
Niederösterreichische Landesausstellung im Stift Zwettl 1981
Zweite verbesserte Auflage
hier: S. 299 Kat.-Nr. 319:

Lexikon des Mittelalters - in IX Bänden
München: Deutscher Taschenbuchverlag GmbH & Co. KG, Oktober 2002
hier: Wolfgang Pfeiffer: Brille, Band 2, Spalten 689 ff.

© Manfred Wolber     Letzte Aktualisierung: 12.08.2004